Veli hielt den Atem an und rannte und rannte.
Seit einer Stunde war er unterwegs, joggte einen kleinen Kiesweg entlang.
Da war Luft anhalten natürlich nicht gerade angebracht und bald sog er mit einem kleinen Japsen die Luft wieder ein. Trotzdem würde er es bald wieder tun. Solange er nicht atmete bildeten sich auch irgendwie keine Gedanken in seinem Gehirn.
Wenn es auch nur für einen kurzen Moment war... es war ruhig, vollkommen ruhig.
Sie war betrunken gewesen, völlig am Ende, und das hatte er genau gewusst.
Auch Veli selber hatte gut zugelangt, schon früh am Abend hatte er keinen klaren Gedanken mehr fassen können, aber es waren trotzdem noch Welten zwischen ihrem und seinem Zustand gewesen.
Er hätte vernünftig sein sollen, ach... loyal hätte er sein sollen, schließlich hatte er die Situation total ausgenutzt.
Gut, das einzige was für ihn sprach war, dass nicht er damit begonnen hatte, sondern sie. Aber machte es das wirklich besser? Wahrscheinlich nicht.
Das schlimmste war, dass er sich jetzt wo er wieder nüchtern war nicht mal einreden konnte, dass sie IHN hatte küssen wollen. Nein, sie hatte einfach nur irgendwen küssen wollen und er war der einzige gewesen der da gewesen war.
Veli schloss bei dem Gedanken daran die Augen, er spürte praktisch noch ihren Körper an seinen gedrückt. Schnell beschleunigte er sein Tempo wieder.
Warum war er auch da geblieben? Eigentlich hätte er es ganz lustig gefunden mit den anderen zum Spielplatz zu gehen, aber nein, er war dort geblieben, nur weil sich Inka mal dazu erniedrigt hatte ihn zu berühren. Sonst schnitt sie ihn ja immer und so war Veli sitzen geblieben und hatte sich selbst vorgespielt sie wären ein Paar und würden mit Tapio und Annikki dort sitzen, irgendwann wäre Inka eingeschlafen. Weil sie sich so wohl bei ihm fühlte.
Vellu biss sich auf die Zunge um an etwas anderes zu denken.
Das war doch fast schon Masochismus. Er hatte doch gewusst, dass es ihm am nächsten Tag so wehen tun würde...um am Tag danach...und bestimmt noch für eine ganze Weile.
Und dann hatte sie ihn geküsste.
Als seine Gedanken sich wieder um diesen Teil des gestrigen Abends richteten blieb er plötzlich stehen. Er jetzt merkte er, wie schnell sein Herz schlug und sein Atem fast schon gequält klang. Das hier hatte nichts mehr mit joggen zu tun, das war einfach wahnsinniges durch die Gegend rennen.
Fertig lehnte er sich an einen Baum.
Es lief aber auch gar nichts wie er es wollte. Nicht mit dem Springen, nicht mit dem Studium und erst recht nicht mit ihr.
Was sollte er denn nur tun?
Sie war ja regelrecht vor ihm geflüchtet als sie bemerkt hatte wen sie da gerade küsste.
Langsam ging er wieder los, diesmal in Richtung Heimweg. Das hatte doch keinen Sinn. Er brachte eine Dusche und endlich etwas Schlaf.
Als er wieder in seiner Wohnung war wollte er eigentlich nur wieder weg. Es wirkte so einsam und grau, da war ja sogar dieser Weg durch den Wald besser gewesen.
Er hatte gerade geduscht als das Telefon klingelte.
Es war sein Trainer.
„Du, tut mir Leid, ich weiß ja, dass du noch nicht lange zuhause sein kannst, aber ich brauche hier für ein paar Papiere Daten.“ Veli war überrascht, eigentlich kümmerte sich jemand anders um sowas und die hatten alle Daten von ihm.
„Zum Beispiel?“
Also fragte er Vellu ein paar Sachen ab während er sich ein Müsli machte. Er konnte alles beantworten ohne groß nachzudenken, aber als er nach seiner Personalausweisnummer wissen wollte musste Veli passen.
Hastig suchte er nach seiner Geldbörse. Aber die war nirgendwo.
Gestern abend hatte er sie aber noch ganz sicher gehabt...also musste sie in seiner Jackentasche oder seiner Hosentasche sein.
„Hey...ich find gerade nichts, ich ruf dich gleich an wenn ich sie habe, ja?“ sagte er schnell und verabschiedete sich.
Verdammt. Wenn das Portemonnaie nicht hier war...dann konnte es nur bei Arttu und Inka sein.
Toll, konnte seine Lage noch blöder werden? Er musste die Nummer haben, solche Papiere konnten nicht warten.
Verzweifelt sah er das Telefon an. Oh nein...oh nein.
Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken Annikki anzurufen und sie zu bitten für ihn nachzufragen. Aber diese würde sich weigern und außerdem kam das ja noch komischer rüber.
Kurzerhand rief er Arttu auf dem Handy an, aber dieser war gerade in der Videothek, meinte nur, dass Inka aber zuhause sei.
Scheiße.
Er atmete tief durch und wählte dann die Nummer der Wohnung.
Das war das kälteste Telefongespräch gewesen, dass er je gehabt hatte. Aber immerhin hatte er jetzt diese Nummer und vielleicht war es nicht mehr so peinlich wenn sie sich das nächste mal sehen würden, vielleicht hatten sie das jetzt schon hinter sich gebracht.
„Wohl eher nicht.“ fügte er im Gedanken hinzu.
Er versuchte sich die nächsten Wochen nicht allzu sehr zurück zu ziehen. Ja, es war schon schlimm für ihn gewesen, aber es gab ja auch noch andere Sachen. Je mehr Energie und Wut er in seine Sprünge steckte umso besser wurden sie, er lernte für Klausuren wirklich mal richtig und wenn er sich sicher war, dass genügend Leute mitkamen unternahm er auch etwas mit Arttu und den anderen. Nur wenn er ihn fragte ob er Lust habe auf einen Videoabend öder etwas ähnliches zu kommen blockte Veli meist ab.
Arttu machte sich keine Gedanken darum, das machte er meistens nicht.
Nur Annikki konnte es sich denken. Wie lange sie schon wusste wie stark seine Gefühle für ihre kleine Schwester waren? Schon eine halbe Ewigkeit. Am Anfang hatte er immer versucht sich raus zu reden, aber mit der Zeit hatte er aufgegeben.
Erst als Inka für ein Jahr Lahti verliess konnte er ihre Schwester davon überzeugen, dass das jetzt das Ende der Schwärmerei war, ganz einfach weil er es selbst geglaubt hatte.
In diesem Jahr hatte Veli viele Mädchen gehabt, manche die nur für das Bett in Frage kamen und andere die er ganz nett fand. Er hatte sich auf keine feste Beziehung eingelassen, einfach weil er es nicht wollte.
Und so hatte er Inkas Wiederkehr eigentlich voll Zuversicht entgegen geblickt. Er konnte wieder ganz normal mit ihr umgehen, er würde mal zurück zicken wenn sie es tat, mal wirklich er selbst sein zu können.
Aber das alles war sehr naiv gewesen. Als er sie das erste mal dort auf der Hochzeit von ihrer Schwester gesehen hatte war alles noch viel schlimmer. Er mochte ihre ganze Art, wie sie mit allem umging und wie sie redete..er mochte eigentlich alles, nur eben nicht wie sie zu ihm war.
Das sollte jetzt wirklich mal aufhören. Der Fehler gestern war ein Fehler gewesen und jetzt konnte es nur besser werden. Fast schon zuversichtlich griff er zum Telefon.
„Ja...“
„Hallo Annikki, Vellu hier. Hast du Lust auf einen Kaffee? Ich brauche mal....deinen Rat.“
Annikki am anderen Ende etwas überrascht. „Joa, warum nicht...Wollten wir uns heute nicht eh zum schwimmen treffen?“
Vellu dachte kurz nach. „Stimmt.“
„Ich denke mal ich sollte Arttu und Inka besser nicht fragen ob sie nicht mitkommt?“
„Du weißt..das...“ Veli war geschockt. Inka hatte ihr das sofort erzählt?
„Nein...aber ich hätte sie normalerweise gefragt... aber wenn du gerne alleine mit der Schwangeren schwimmen gehen willst. Du bist schuld wenn hinterher überall umgeht, dass Veli-Matti Lindström Vater wird.“
Vellu begann zu lächeln. „Nein, ich brauch nur wen zum reden.“
Wie seltsam war es, dass die Person der er am meisten vertraute die Schwester von Inka war.
Annikki war schon ewig seine beste Freundin gewesen.
„Kein Problem...“ sagte sie freudig. „Aber vielleicht gehen wir doch besser was trinken...oder noch besser...was essen. Ich hab Lust auf Pizza.“
„Gut dann komme ich dich gleich abholen.“
Schon auf der Fahrt brachte Annikki es auf den Punkt.
„Dir geht’s gar nicht gut, hm?“ Sie sah ihn von der Seite an, er schaute jedoch fest auf die Straße.
„Mir geht es schon ne Weile so...das weißt du doch.“ Warum leugnete er es eigentlich, er wollte es ja los werden und er wusste auch, dass das eine rhetorische Frage gewesen war.
„Ist es wegen Inka?“
Na dass es so offensichtlich war fand er aber dann doch mies.
Als er nicht antwortete hörte er Annikki neben sich leicht seufzen. „Ich wusste, dass es keine gute Idee war euch alleine zu lassen.“
Jetzt sah Veli sie aber verletzt an. „Na....das war doch nicht meine Idee gewesen.“ sagte er aufgebracht und nun war sie es die ihn überrascht ansah.
„Ich...ich meinte, dass es keine gute Idee war weil es dir doch eh nur weh tun würde wenn du...mit ihr alleine bist.“
Jetzt fiel der Groschen bei Veli. „oh.“
Das schlimmste war ja, dass sie sogar recht hatte.
„Aber was meinst du denn bitte?“ kam dann die Frage auf die Vellu gewartet hatte.
Er schluckte und sah kurz zu ihr rüber. „Naja...sie war betrunken und wollte ins Bett...“
Annikki war der Mund aufgefallen und sie sah ihn entsetzt an, unterbrach ihn sofort: „Du hast....nein...das...“
„Nein.“ unterbrach diesmal er sie. „Sie...sie hat mich geküsst. Und eigentlich wollte ich sie nur ins Bett bringen...aber dann hat sie mich halt geküsst. Irgendwann hat sie gecheckt was sie tut und mich praktisch weg geschubst.“
Er sah wieder fest auf die Straße, das war wirklich das was ihm am meisten weh tat.
Einen Moment lang sagte niemand etwas.
„Veli..“ begann Annikki dann irgendwann als sie schon dabei waren eine Parklücke zu suchen. „Du weißt aber, dass sie sehr betrunken war und sie eigentlich...“
„Und sie eigentlich denkt ich bin total ätzend? Ja, das weiß ich.“ murmelte er und kam in diesem Moment zum stehen.
Er schnallte sich ab und sah zu Annikki rüber. Diese sah ihn mitleidig an, nahm ihn dann in den Arm. „Du Armer...Ich wünschte sie wüsste was sie an dir haben könnte.“
„Könnte sie das?“ murrte er als sie sich wieder voneinander lösten und sah auf das Lenkrad.
Schnell stubste sie ihn an. „Sowas darfst du nicht mal denken. Wir finden noch wen für dich. Jemand der so sehr in dich verliebt ist, dass du Inka ohne mit der Wimper zu zucken wieder vergisst.“
Veli lächelte leicht. „Ja, gerne.“
Auch Annikki lächelte und sie beide stiegen aus.