- Kapitel 2 -
Noch einige Stunden waren die beiden jungen Finnen völlig orientierungslos durch den Wald gestapft, bis sie in der Abenddämmerung die Suche nach dem richtigen Weg aufgaben. Deprimiert setzte sich Arttu auf einen Stein, zog die Schuhe aus und knetete seine schmerzenden Füße. Weit und breit war kein Zeichen von Zivilisation zu sehen. Kein Licht, keine Straße, keine Menschen. Alles, was er hörte, war das Pfeifen einiger Vögel, das Rauschen des Windes und das leise Fluchen seines Freundes Janne, der in paar Meter entfernt an einen Baum gelehnt stand und den Neumond im Himmel anstarrte. „Ich schlage vor, dass wir hier unser Lager aufbauen und dann morgen erst weitersuchen“, durchbrach Arttu das Schweigen. Seit der letzten Ruhepause am See und dem Eingeständnis, dass sie sich verlaufen haben, hatten Happi und Lappi kaum mehr ein Wort miteinander gesprochen. Auch jetzt antwortete Janne nicht. „So habe ich mir unseren Urlaub wirklich nicht vorgestellt“, sagte Arttu leise, „Aber jetzt stehen wir hier halt hilflos in der Landschaft. Wir sollten wenigstens das Beste daraus machen und wieder miteinander reden.“. Arttu kramte in seinem Rucksack und holte eine halbvolle Flasche Lordicola heraus, die er Janne hinhielt. Dieser lächelte verlegen und setzte sich neben Arttu ins Gras. Während sie abwechselnd aus der Lordicolaflasche tranken, überdachten sie ihre Situation. „So weit können wir uns eigentlich gar nicht verlaufen haben“, sagte Janne schließlich, „Es wird morgen sicherlich nicht lange dauern, bis wir jemanden finden, der uns den richtigen Weg zeigen kann.“. Arttu klopfte Janne bestätigend auf die Schulter und stand auf, um das Zelt aufzubauen. Da beide handwerklich eher mit weniger Talent ausgestattet waren, dauert das Zeltaufbauen fast eine ganze Stunde, doch irgendwann stand der Unterschlupf. Obwohl es tagsüber sehr warm gewesen war, legte sich mit der Dunkelheit auch eine frostige Kälte über das Land. Die beiden Skispringer krochen also in ihr Zelt, wo sie noch einige Zeit wach lagen, um einen Plan für den nächsten Tag zu entwerfen. Schließlich konnten sie ihre Augen nicht mehr offen halten und versanken in einen tiefen Schlaf. Um kurz vor zwei Uhr morgens schreckte Arttu plötzlich aus seinem Traum auf. Gerade noch hatte er von wilden Siegespartys mit verrückten Mädchen geträumt, die Lordicola tranken und im Schnee spielten und jetzt saß er urplötzlich kerzengerade in seinem Schlafsack und hielt die Luft an. Hatte er draußen im Wald nicht ein Geräusch gehört? Er versuchte flach zu atmen und in die Dunkelheit zu lauschen. Außer Jannes leisem, rhythmischem Schnarchen konnte er jedoch nichts hören. „Wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet!“, sagte sich Arttu und kuschelte sich wieder in seinen Schlafsack, doch noch bevor er die Augen richtig geschlossen hatte, hörte er wieder ein Geräusch im Wald. Knack! Knack! Jetzt konnte Arttu es ganz deutlich hören. Es war zwar leise und schien sich nicht in unmittelbarer Nähe zu befinden, aber er hörte definitiv ein Geräusch und es schien näher zu kommen! Arttu stockte der Atem. Er rüttelte an Jannes Schulter. „Scheiße Janne, wach auf! Nun komm schon! Da draußen ist irgendetwas. Janne!“. Verschlafen reckte Janne den Kopf aus dem Schlafsack und blinzelte in den Schein der kleinen Taschenlampe, die Arttu auf ihn gerichtet hatte. „Was soll denn das? Ich will schlafen…“, murrte er, doch Arttu hörte nicht auf, ihn zu schütteln. „Nun hör doch, irgendetwas ist da draußen und es kommt näher!“, wisperte Arttu mit zitternder Stimme. Knack! Knack! Diesmal hörte es auch Janne ganz deutlich. Seine Augen weiteten sich und ängstlich sah er Arttu an: „U-u-und was ma-ma-machen wir jetzt?“, stotterte Janne. Zitternd schlug er vor, das Licht auszumachen und einfach muckmäuschenstill zu sein, in der Hoffnung, dass die Kreatur im Wald sie nicht bemerken würde. „Nein! Bist du verrückt? Ich warte nicht hier im Zelt, bis der Irre mit seiner Kettensäge kommt!“, fuhr Arttu den erschütterten Janne an. „Hier, wir nehmen uns diese Decke, suchen uns zwei große Äste und verstecken uns im Gebüsch. Wenn das Monster dann hier her kommt, schmeißen wir die Decke über es und schlagen es k.o.“, plante Arttu. Janne sah ihn entsetzt an und schickte Flüche in den Himmel. Dennoch folgte er Arttu aus dem Zelt und postierte sich mit einem großen Ast hinter einem stacheligen Busch. Nun hockten Happi und Lappi mitten im Wald in der Dunkelheit und hörten angestrengt auf jedes noch so kleine Geräusch. Das Knacken kam immer näher und nun konnten sie erkennen, dass es definitiv Schritte waren, die sich in einem erstaunlichen Tempo den beiden Skispringern nährten. Arttu wurde flau im Magen und voller Angst klammerte er sich an seiner improvisierten Waffe fest. Knack! Knack! Knack! Knack! Mit jedem Schritt schlugen die Herzen der beiden schneller. Der Schweiß rann ihnen den Rücken hinunter und auf ihren Armen hatten sich die Härchen aufgestellt. „Es ist gleich hier“, flüsterte Arttu ängstlich, „Warte auf mein Zeichen und dann stürzen wir uns auf es!“. Janne nickte, doch vor Angst konnte er sich kaum bewegen. Plötzlich stieß Arttu ihm in die Rippen und gab das Zeichen zum Angriff. Trotz der lähmenden Angst sprangen Happi und Lappi aus dem Busch und warfen sich auf das unbekannte Wesen, das unter der gelben Decke vor Schmerzen ächzte. Plötzlich fing es an, wütend zu toben und zu schreien: „Verdammte Scheiße! Runter von mir! Was soll das?“. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die beiden Jungen von ihrem Opfer und starrten auf die am Boden um sich tretende Kreatur. Entsetzt stotterte Janne: „M-M-Ma-Matti?“. Die Gestalt riss sich die Decke vom Körper und die Zwillinge schauten in das wutentbrannte Gesicht von Matti Hautamäki! Matti wusste erst nicht, wie ihm geschah, doch als er die beiden völlig verängstigten, zitternden Jungen erblickte, brach er in schallendes Gelächter aus. Arttu und Janne starrten ihn nur mit offenen Mündern an und ließen langsam ihre Äste zu Boden sinken. Nachdem Matti sich minutenlang lachend und wiehernd auf dem Boden gewälzt hatte, brachte er endlich ein paar Worte hervor: „Happi und Lappi! Na so eine Überraschung! Was macht ihr denn hier für einen Blödsinn? Und was zieht ihr überhaupt für komische Gesichter?“. Wieder verfiel er in schallendes Gelächter, bis Arttu sich endlich aus seinem Schockzustand befreien konnte. „Was zur Hölle machst du denn hier, Matti? Ich dachte, du bist ins Kuusamo.“, sagte Arttu zögernd. „Ja, dort war ich auch“, entgegnete Matti und dann erklärte er den beiden, dass er aufgrund seiner unfassbar miserablen Trainingsergebnisse furchtbar schlechte Laune bekommen und deswegen beschlossen hatte, den Weg von Kuusamo nach Kuopio zu joggen. Janne berichtete ihm, was den Zwillingen alles widerfahren war und wieder konnte sich Matti ein Lachen kaum verkneifen. „Passt mal auf, ich bleib jetzt die Nacht hier bei euch und morgen früh zeige ich euch den Weg zur Tankstelle, in Ordnung?“, schlug Matti vor. Happi und Lappi waren erleichtert und nachdem sie alle noch ein paar Stückchen Schokolade gegessen hatten, legten sie sich wieder ins Zelt und schliefen friedlich bis in die Morgenstunden.
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