Teil 1
„... und somit entziehe ich ihnen Kraft meines Amtes das Sorgerecht für ihr Kind. Nun zur Begründung. Ich hoffe sie haben Verstand genug um zu erkennen dass ihr Verhalten ihrem Kind gegenüber absolut menschenunwürdig ist. Denn sie müssen bedenken, sie haben hier kein kleines Kind mehr vor sich, dem sie nach Belieben vorschreiben können was es zu tun und zu lassen hat. Da drüben sitzt ihre Tochter, die schon fast eine junge Frau ist und die auch so zu behandeln ist. Natürlich haben sie das Sorgerecht für sie gehabt, aber das heißt nicht dass sie ihr bis in alle Einzelheiten vorschreiben können wie sie ihr Leben führt. Genauso wenig können sie der jungen Dame verbieten ihren Bruder zu besuchen. Und ich möchte wetten, wäre ihr Sohn in seiner Jugend nicht eh schon so oft von ihnen getrennt gewesen wäre, so ein Prozess wie dieser hier wäre schon ein paar Jahre früher auf sie zugekommen. Allerdings wäre dann wohl der jungen Dame die ganze Quälerei erspart geblieben. Nun denn, das Sorgerecht wurde ihnen entzogen, doch da ihre Tochter noch ein paar Monate auf die Volljährigkeit warten muss haben wir uns mit dem Jugendamt zusammengesetzt, ihre Tochter hat selbst jemanden vorgeschlagen, dem wir das Sorgerecht übertragen können und die Jugendgerichtshilfe hat die nötigen Gespräche geführt. Das Sorgerecht wird also dem Bruder der Klägerin zugewiesen. Ich wünsche ihnen viel Glück dabei. Für die Eltern hoffe ich dass ihnen dies alles eine Lehre ist und sie irgendwann den Kontakt zu ihren Kindern wieder aufbauen können. Damit ist die Verhandlung geschlossen.“ Ohne meine Eltern auch nur eines Blickes zu würdigen verließ ich glücklich und erleichtert den Gerichtssaal. Draußen sah ich endlich meinen Bruder Ville den Gang entlang hetzen. Erleichtert darüber ihn zu sehen lief ich ihm entgegen. „Wow, tut mir leid Manja. Aber wir hatten Probleme mit dem Wind und deshalb hat der Wettkampf viel mehr Zeit in Anspruch genommen als ursprünglich geplant war.“ „Ist doch nicht schlimm...“ Lachend fiel ich meinem Bruder um den Hals. „Naja, anscheinend hat es auch ohne mich geklappt...“ Auf einmal ertönte hinter uns eine uns allzu bekannte Stimme. „Ja nun habt ihr ja erreicht was ihr wolltet. Aber ihr seid trotzdem unsere Kinder und ihr werdet es immer bleiben. Daran kann kein Gericht dieser Welt etwas ändern.“ Schlagartig verwandelte sich Ville’s ganze Haltung und er wirkte angespannt, ernst und unfreundlich. „Ja leider können wir das nicht ändern, aber wir können es immerhin verdrängen. Und das wird uns auch bestimmt gut gelingen da Manja mit zu mir nach Kuopio zieht.“ Einen Augenblick standen wir einfach so da. Unsere Eltern auf der einen Seite, Ville und ich auf der anderen. Eine Familie... Doch dann nahm Ville meine Hand und zog mich hinter sich her den Gang entlang. In dem Moment hätte ich glücklich sein müssen das die ganze Quälerei mit meinen Eltern nun ein Ende hatte, doch irgendwas in mir konnte sich trotzdem nicht so recht freuen. Und die Tatsache das mein lieber Bruder gerade nicht sonderlich freundlich aus der Wäsche guckte machte mir die Sache auch nicht gerade leichter. Ich kannte ihn eigentlich nur fett grinsend. Allerdings hatte ich auch nie so wirklich mitbekommen welche Probleme er mit unseren Eltern hatte. Ville war ja auch knappe acht Jahre älter als ich und quasi schon ein Teenager als ich anfing mitzubekommen was so alles in unserer Familie abging. Tja und als Teenager war Ville schon ein echt guter Skispringer und nicht so oft zu Hause. Und sobald er dann volljährig war zog er von Joutseno nach Kuopio und ich musste mich allein mit unseren Eltern herumschlagen. Zu mir brach er auch nie den Kontakt ab und ich war eigentlich auch der einzige Grund warum er überhaupt mal zu Besuch kam. Und nun zerrte er mich etwas barsch hinter sich her und ich wusste nicht genau was ich davon halten sollte. Als wir das Gerichtsgebäude verlassen hatten blieb Ville abrupt stehen und lächelte mich an. „So das hätten wir geschafft. Tut mir leid das ich dich so kopflos hinter mir hergezerrt habe, aber Krankenhäuser und Gerichte deprimieren mich immer.“ Wir standen uns einen Augenblick gegenüber und grinsten uns nur an. „Also Schwesterherz, was machen wir jetzt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht holen wir meine Sachen aus dem Heim und fahren dann endlich nach Kuopio. Ich will das hier endlich hinter mir lassen.“ Ville nickte und wir machten uns eiligst auf den Weg ins Heim. Während der Zeit der Verhandlung sollte ich nämlich nicht bei meinen Eltern untergebracht sein. Als wir mit dem Auto in Kuopio angekommen waren schleppten wir meine 3 Koffer und den Rucksack in Ville’s Wohnung. „Und, willst du dein Zimmer sehen?“ Ich sah mich gerade staunend um denn so eine stylische Wohnung hätte ich Ville nie zugetraut. Ich war irgendwie ziemlich sprachlos und nickte nur mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht. Er führte mich also in mein Zimmer und da verschlug es mir fast noch mehr die Sprache und ich fiel Ville erstmal restlos glücklich um den Hals. „Nana... ist ja schon gut, ich weiß das ich toll bin... Ich schlage vor du packst erstmal in Ruhe deine Sachen aus und dann unternehmen wir was tolles.“ Ich nickte nur und Ville ließ mich allein. Ungefähr eine halbe Stunde später klopfte es leise an die Tür und Ville trat ein. „Hey Muckel... was ist denn mit dir los? Ich dachte du hättest deine Klamotten ausgepackt, statt dessen sitzt du da und starrst die Koffer an...“ Ich antwortete nichts und Ville setzte sich neben mich und legte mir unbeholfen einen Arm um die Schulter. „Hey was ist denn los?“ Ich seufzte einmal aus vollem Herzen und sah Ville an. „Ich frage mich nur seit einer knappen halben Stunde wie es sein kann, das mein ganzes Leben in 3 kleine Koffer und einen Rucksack passt...“ Ville brachte ein Lächeln zustande und sah mich an. „Ungefähr das gleiche habe ich mich gefragt als ich vor knapp 8 Jahren hierher kam. Glaub mir, das ändert sich ganz schnell.“ Immernoch etwas unbeholfen nahm er mich in den Arm und drückte mich kurz an sich. „Und jetzt pack deinen Kram aus, ich will dir endlich die Stadt zeigen.“ Damit ließ er mich wieder alleine und ich fing an meine Schränke und Regale einzuräumen. Als ich fertig war ging ich zu Ville, wir zogen uns unsere Jacken an und machten uns auf den Weg. „Und, auf was hast du Lust?“ Ich grinste Ville an. „Ich hab Bock auf ein Eis...“ Ville sah mich ungläubig an. „Ein Eis? Mitten im Winter? Auf so ’ne Idee kannst auch nur du kommen...“ Trotzdem gingen wir in ein Café und während ich an meinem riesigen Eisbecher löffelte trank Ville einen schönen warmen Cappuccino und grinste mich über den Tassenrand frech an. „Bist du dir sicher das du dich mit dem Eisbecher nicht ein bisschen übernommen hast?“ Ich schaufelte weiter genüsslich mein Eis und sah ihn ganz unschuldig an. „Wieso? Du hast gesagt du lädst mich ein...“ Ville grinste noch breiter. „Ja tu ich ja auch aber ich meine damit ob das nicht ein bisschen viel Eis für deinen kleinen Magen ist?“ Ich schüttelte heftig mit dem Kopf und spachtelte weiter. „Wo denkst du hin? Ich vertrage mehr Eis als eine Fußballmannschaft...“ Ville grinste auf meinen Kommentar nur noch mehr, wobei ich schon dachte das ginge gar nicht. Ungefähr zehn Minuten später aß ich auch schon um einiges langsamer und der Becher war noch gut zur Hälfte voll. Da hatte ich mich wohl doch ein wenig übernommen. Gerade als Ville zu einem Spruch ansetzte sprang etwas blondes an unseren Tisch und grinste uns abwechselnd an. „Hi Ville. Bist ja heute nach dem Wettkampf erstaunlich schnell abgehauen.“ „Hey Axu, was geht? Ich musste halt schnell nach Joutseno meine Schwester abholen. Die Verhandlung hatte ich eh schon verpasst, aber das wollte ich mir dann doch nicht nehmen lassen. „Ahja...“ Dann sah er mich an. „Dann bist du wohl die kleine Schwester!?! Freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin Axu, Springerkollege von Ville.“ Er reichte mir die Hand. Froh über die Abwechslung ergriff ich sie und schüttelte kräftig. „Ich bin Manja. Freut mich.“ „Willst du dich nicht zu uns setzen?“ meldete Ville sich wieder zu Wort. „Ja da sag ich nicht nein“, meinte Axu und setzte sich neben mich. „Oh der Eisbecher sieht ja lecker aus. Ich dachte immer ich wäre der Einzige der im Winter Eis isst. Ich glaub ich nehme auch einen. Aber der ist schon ziemlich groß, oder?“ Ville grinste nur und ich wusste das sofort ein Spruch von ihm kommen würde. „Tja Axu, da hast du wohl Recht, aber meine Schwester meint sie könnte soviel Eis essen wie eine Fußballmannschaft.“ „Wow... Das ist doch mal eine Ansage. Ich wollte dir gerade meine Hilfe anbieten, aber wenn du den schaffst ohne das dir schlecht wird. Respekt!!“ Ich nickte nur und mampfte weiter mein Eis. Immer schön beobachtet von Ville und Axu, der seine Bestellung noch nicht aufgegeben hatte. Ich gab mir wirklich Mühe mir nicht anmerken zu lassen das mir langsam aber sicher echt schlecht wurde und ich nicht so wirklich voran kam. Aber das musste ja eigentlich auffallen. Und nach den Gesichtern der beiden zu urteilen fiel das auch auf. „Soll ich dir nicht doch helfen?“ fragte Axu nochmal. Aber ich schüttelten tapfer den Kopf und strich mir über den Bauch. „Da passt noch viel rein...“ Axu zuckte mit den Schultern und winkte die Bedienung ran. „Was kann ich für sie tun?“ „Tja, eigentlich wollte ich der jungen Dame neben mir helfen, aber sie meint sie schafft es alleine. Also nehme ich auch so ’nen Eisbecher. Aber ein paar Nummern kleiner.“ Ville, Axu und die Bedienung sahen mich nochmal alle erwartungsvoll an, aber ich mampfte weiter mein Eis. Die Bedienung drehte sich also um und ging. Da sahen mich Ville und Axu mit einem Blick an, der mehr als tausend Worte sagte, das sogar ein Blinder mit Krückstock merken würde das ich nicht mehr konnte. „Halt, Moment bitte...“ rief ich und die Bedienung kam noch einmal an den Tisch. „Ähmmm... Bringen sie vielleicht doch lieber nur einen zweiten Löffel. Das ist mir möglicherweise doch ein bisschen...zu viel.“ Sie grinste sich einen, nickte und verschwand um einen zweiten Löffel zu bringen. Axu und Ville grinsten mich schelmisch an und auch ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Jaja, freut euch ’nen Ast, es ist vielleicht wirklich ein bisschen viel für mich. Schön ihr hattet Recht. Geilt euch das auf oder so?“ Ville und Axu sahen mich einen Augenblick lang leicht geschockt an, dann brachen sie synchron in schallendes Gelächter aus. „Wow Ville, deine Schwester ist aber ganz schön vorlaut.“ Und an mich gewandt meinte er: „Und du bist der Typ Mensch der mit Ville umgehen kann. Gratulation euch beiden, als Geschwister seid ihr bestimmt ein klasse Team.“ In dem Augenblick kam die Kellnerin wieder und brachte Axu seinen Löffel. Dann teilten Axu und ich uns freundschaftlich den Eisbecher, nach ein paar Happen schob ich ihm aber den ganzen Becher zu. „Okay, auf die Gefahr hin das ich mir das jetzt ein Leben lang von euch vorhalten lassen muss, aber wenn ich noch einen Löffel Eis esse platze ich.“ Die beiden grinsten mich jedoch nicht an und sagten weiter nichts. Als Ville seinen Cappu alle hatte und Axu mit meinem Eis fertig war schwiegen wir uns einen Augenblick an. Doch Axu brach die Stille. „Und, was habt ihr jetzt noch hübsches vor?“ Ich sah von Axu zu Ville und wieder zurück zu Axu, der mich nun fragend ansah. „Du brauchst mich gar nicht so fragend ansehen. Ich kenne mich hier nicht aus. Ich wohne schließlich erst seit heute hier.“ Ville zuckte auch mit den Schultern. „Ich weiß nicht, für den Abend habe ich mir nichts überlegt. Aber eigentlich hätten wir ja schon was zu feiern...“ Er sah mich fragend an und ich nickte zustimmend. „Ja Mensch das ist doch super,“ meldete sich Axu wieder. „Als du nämlich heute nach dem Wettkampf so schnell weg bist haben wir überlegt das wir zur Feier der Weltcuppause heute Abend zusammen ins ’Incognito’ gehen könnten. Kommt ihr doch einfach mit, dann lernt Manja gleich die ganze Truppe kennen. Sogar Janne meinte nach stundenlanger Überzeugungsarbeit das er vielleicht mal vorbeischaut.“ „Janne, oh je...“ Ville schlug sich gegen die Stirn. Dann wandt er sich zu mir. „Janne ist unser Außenseiter. Von der Presse wird er immer als unser Chef gehandelt weil er der älteste ist, aber intern grenzt er sich voll von uns ab. Macht voll einen auf Einzelgänger.“ „Ahja... Hört sich ja spannend an,“ erwiderte ich. „Und was ist das Incognito?“ „Das ist eine kleine Disco in der wir uns oft treffen. Da ist der Rummel um unsere Personen nicht so groß und die Musik ist auch geil,“ erklärte Axu mir. „Okay Jungs, das ist ja ’ne feine Sache, aber ich komme da doch gar nicht rein. Ich bin doch noch keine 18. Und überhaupt war ich noch nie in einer Disco.“ „Ja und dass das nicht an dir lag ist ja wohl klar.“ Es war klar das Ville eine Anspielung auf unsere Eltern machte. Natürlich hätten sie mich nie in eine Disco gelassen. „Ja, trotzdem bin ich noch keine 18...“ „Ach Manja...“ Axu legte einen Arm um meine Schulter. „Als ob das ein Problem wäre. Heutzutage kommen 15 oder 16-jährige in die Discos. Und außerdem darfst du nicht vergessen das du mit uns dahin gehst. Da das unsere Stammdisco ist kennen wir natürlich den Besitzer ziemlich gut und wenn die tatsächlich deinen Ausweis kontrollieren wollen würden... Ein Wort von Ville und du bist drin. Außerdem bist du mit deinem Bruder da, der auch noch dein Erziehungsberechtigter ist, also kann dir keiner was. Also, was sagst du?“ Ich sah ihn an und bei dem Grinsen konnte ich natürlich nicht nein sagen. Wir saßen noch ein bisschen beieinander und quasselten über dies und das. Dann bezahlte Ville und wir machten uns nach draußen in die eisige Kälte. Ein Stückchen liefen wir noch zusammen durch die Fußgängerzone, dann trennten sich unsere Wege. Wir verabschiedeten uns von Axu und verabredeten uns für 22 Uhr abends im Incognito. Als wir wieder in unserer Wohnung angekommen waren stürzte ich mich als allererstes auf meinen Kleiderschrank um nachzusehen was ich am Abend anziehen könnte. Allerdings fand ich nichts was ich als discotauglich durchgehen lassen würde. Naja, ich war ja auch noch nie in einer Disco gewesen, woher sollte ich also die passenden Klamotten haben. Naja, so würde ich halt in Jeans und T-Shirt da auflaufen. Ich ging ins Wohnzimmer uns setzte mich neben Ville aufs Sofa und sah mir mit ihm eine dusselige Talkshow an. Allerdings konnte ich mich nicht wirklich konzentrieren. Das fiel anscheinend auch Ville auf, denn er fragte was los wäre. „Ville, ich glaube es ist besser wenn du dich heute Abend allein mit deinen Freunden triffst...“ Ville sah mich fragend an und schaltete den Fernseher aus. „Das kommt ja gar nicht in Frage. Wenn du unbedingt zu Hause bleiben willst dann würde ich nie auf die Idee kommen mich mit der Mannschaft zu treffen. Zumindest nicht an deinem ersten Abend. Hast du denn gar keine Lust hinzugehen? Axu wäre dann bestimmt traurig, ich glaube der kann dich gut leiden.“ Da musste ich wieder lächeln. Ich mochte Axu auch total gerne, auch wenn ich ihn kaum kannte. Aber er war halt ein absoluter Sympathieträger. Und er brachte einen pausenlos zum Lachen. Und es freute mich, das Ville sagte das Axu mich anscheinend mochte. „Es ist ja nich weil ich deine Leute nicht kennenlernen will oder so...“ „Sondern?“ Ville zwang mich ihn anzusehen. „Naja... Ich hab halt keine Lust da in Jeans und T-Shirt aufzutauchen und viel mehr hab ich eigentlich nicht.“ Ville lächelte und nahm mich kurz in den Arm. „Ach Schwesterherz... Wenn das dein einziges Problem ist dann kann dem doch abgeholfen werden. Wir besorgen dir einfach was stylisches zum anziehen.“ „Haha Ville, guter Witz. Guck mal auf die Uhr. Die Geschäfte haben doch schon alle geschlossen.“ Ville sah mich an als ob ich vom anderen Stern wäre. „Hey Manja überleg mal wer dein Bruder ist. Wenn man die richtigen Leute kennt ist doch alles in Ordnung.“ Damit ließ er mich sitzen und holte das Telefon. Er wählte eine Nummer und wartete bis sich am anderen Ende eine Stimme meldete. „Hi Kirja, hier ist Ville. Sag mal bist du noch in deinem Laden?“ Er hörte gespannt zu was diese Kirja antwortete und lächelte. „Hey da hab ich ja gerade noch Glück gehabt. Ich wollte dich fragen ob du ein bisschen Zeit hast und mir einen Gefallen tun könntest. Du würdest uns echt den Abend retten.“ Er drückte den Knopf für den Lautsprecher damit ich auch mithören konnte und eine angenehme Stimme klang aus dem Telefon. „Was kann ich für dich tun Ville? Und wer ist wir?“ „Ja also ich würde dir gerne Manja vorbeischicken. Also das ist meine kleine Schwester. Sie wohnt seit heute bei mir und ich wollte mit ihr ins Incognito und mich mit den Jungs treffen. Tja, allerdings haben wir gerade festgestellt das sie keine discotauglichen Klamotten hat und da hab ich logischerweise an dich gedacht.“ „Hmmm... ja wenn du sie gleich vorbeibringst werden wir schon was passendes finden.“ „Hey danke Kirja, du bist ein Schatz. Wir fahren gleich los.“ Und schon hatte er aufgelegt ohne eine Antwort von Kirja abzuwarten. „Also Schwesterherz, Jacke an, wir düsen los.“ Knapp 10 Minuten später hielt Ville’s Wagen vor einer schicken kleinen Boutique. Wir klopften an die Tür und Kirja öffnete uns. Sie war ziemlich klein, zierlich und hatte dunkle Locken und mochte ungefähr in Ville’s Alter sein. Kurz und gut, sie war mir auf Anhieb sympathisch. „Hey Kirja, nochmal danke. Ohne dich würden Manja und ich heute Abend zu Hause rumsitzen.“ „Ach kein Ding. Willst du so lange warten oder soll ich Manja dann bei dir vorbeibringen? Liegt ja fast auf dem Weg.“ Ville sah mich an und überließ mir die Entscheidung. „Ja von mir aus kannst du fahren. Wenn das für Kirja kein Umweg ist... Außerdem kann ich dich dann überraschen.“ Ville zuckte mit den Schultern, verabschiedete sich von Kirja und machte sich wieder auf den Weg. Nachdem Ville sich vom Acker gemacht hat ’scannte’ Kirja mich mit einem Blick ein und durchpflügte dann den Laden nach passenden Klamotten für mich. Etwas unschlüssig folgte ich ihr. „Hast du irgendwelche Wünsche deinen Stil entsprechend oder soll ich einfach machen?“ hörte ich Kirja aus einem Haufen Klamotten murmeln. „Ähm... tja...eigentlich sind Jeans und T-Shirts mein Stil... Nur sind meine für die Disco nicht wirklich geeignet. Also vielleicht einfach ’ne schicke Jeans und ein Shirt was nicht ganz nach Sport aussieht. Das wäre eigentlich ideal.“ Kirja sah mich an und hob ihre Augenbraue. „Okay hör zu, Ville und ich sind ziemlich enge Freunde und ich weiß über dich und die Sache mit deinen Eltern bescheid. Klar das du nie was anderes getragen hast. Aber mal ehrlich. Deine Eltern können dir jetzt nix mehr verbieten. Also hab mal ein bisschen Mut und probier was neues aus.“ Ich sah sie zweifelnd an. „Na komm schon. Ich such dir jetzt erst mal was raus und du probierst es an. Und wenn es dir nicht gefällt dann brauchst du es ja nicht zu nehmen, okay?“ Ich atmete einmal tief durch und nickte. Eine Viertelstunde später stand ich in einer schwarzen Schlaghose und einem roten Top vorm Spiegel. Ich drehte mich hin und her und konnte an dem nicht so ganz Gefallen finden. Und so ging das eine ganze Weile weiter. Dann wollte Kirja mir einen Rock andrehen! Ich weigerte mich schon ihn auch nur anzuziehen, aber Kirja blieb standhaft. Also verschwand ich in der Umkleide, zog den meiner Meinung nach viel zu engen und viel zu hoch geschlitzten schwarzen Rock an und kam wieder raus. Kirja bekam sich vor Lachen gerade voll nicht wieder ein, aber der Rock und das geringelte Top sahen zusammen schon sehr komisch aus. „Oh sorry Manja. Ich hab dir das falsche Oberteil gegeben. Hier hast du.“ Ich griff mir den Fummel und verschwand wieder in der Kabine. Das durfte doch echt nicht wahr sein. Sie wollte mir ungelogen ein schulterfreies Top andrehen. Zugegeben, ich brauchte keine Angst zu haben das es rutschte weil Obenrum ein voll gutes Gummi eingearbeitet war, aber trotzdem. Plötzlich wühlte sich eine Hand durch den Vorhang und stellte ein paar schwarze Stiefel neben mich. Die Frau wollte mich anscheinend echt umbringen. Aber da sie schon so nett war und wegen mir den Laden länger offen lies und sich hier mit mir abplagte konnte ich schlecht nein sagen. Also zog ich die Stiefel an, auf denen ich eh nicht laufen können würde und trat zur Begutachtung hinaus. „Wow..“ Das war alles was Kirja rausbrachte. Sie schlich einmal um mich herum und sah mich staunend an. „Hey kleine, DAS ist dein Outfit und nichts anderes.“ Ich trat vor den Spiegel und drehte mich skeptisch hin und her. „Och Kirja nein... Ich fühl mich überhaupt nicht wohl darin und guck doch mal wie das aussieht. Vor allem an den Beinen. Ich bin zu dürr das hier zu tragen.“ Das stimmte allerdings wirklich und war keine Ausrede meinerseits. Dieses extrem schlanke lag bei uns in der Familie. Ville war das natürlich zugute gekommen, denn er musste nicht sonderlich auf seine Ernährung achten und behielt sein Gewicht trotzdem immer bei. Auch ich hatte mal mit dem Skispringen angefangen aber nicht so recht Gefallen daran gefunden, was vor allem die Schuld meiner Eltern war. Kirja redete ohne Ende auf mich ein. Doch ich fand das für eine Disco echt zu overdressed. „Kirja, Ville hat mir schon gesagt das ich so ziemlich das einzige Mädel sein werde und da will ich nicht noch so da auflaufen.“ Plötzlich kam mir eine Idee. „Sag mal wieso kommst du nicht einfach mit?“ Kirja sah mich fragend an. „Ich weiß nicht ob Ville das recht ist. Ich meine wir sind voll gut befreundet, aber zu seinen Kollegen hat er mich noch nie mitgenommen.“ Sie wurde leicht rot und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Du stehst auf Ville!!! Ich hab Recht oder?“ Sie errötete nur mehr und nickte leicht. Ich lächelte und legte einen Arm um sie. Mir war gerade eine phantastische Idee gekommen. Ich sah es fast schon als Berufung an meinen Bruder mit Kirja zu verkuppeln. Dafür würde ich sogar über meinen Schatten springen und diesen Fummel anziehen. Wenn ich Glück hatte sah ich einen Großteil der Jungs eh so schnell nicht wieder. Schließlich konnte ich Kirja überreden mitzukommen, ich rief Ville an und sagte ihm das Kirja mich im Incognito vorbeibringen würde, verschwieg aber das sie mitkommen würde und dann schlossen wir den Laden und fuhren zu Kirja. Sie hatte eine kleine, aber total gemütliche Wohnung und ich nutzte die Gelegenheit um sie ein bisschen über meinen lieben Bruder auszufragen. Dann zog Kirja sich um und wählte einen ähnlichen Stil wie ich damit ich mich nicht so overdressed fühlte. Dann wollte sie mich schminken. Erst wehrte ich mich ein bisschen, aber nachdem sie meinte, ohne Make up würde ich aussehen wie wenn Ville nach dem Training auf einen Ball gehen würde. Wohlgemerkt ohne sich umzuziehen. Also ließ ich mich wohl oder übel anmalen. „So, nun nur noch deine Haare. Hast du was dagegen wenn ich ein bisschen daran rumschnibble?“ Ich sah sie mit großen Augen an und Kirja konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. „Keine Angst, ich hab mal eine Ausbildung als Frisörin gemacht.“ Ich seufzte und ließ sie machen. Gegen diese Frau hatte ich einfach keine Chance. Als sie fertig war ich allerdings sehr erstaunt und erkannte mich fast selbst nicht wieder. Als sie dann auch fertig gestylt war fuhren wir, natürlich viel zu spät los. Doch schon im Auto überkamen mich voll die Zweifel. „Ach Kirja ich weiß nich. Du hast gerade eine komplette Typumwandelung mit mir gemacht. Wenn mir das heute morgen jemand gesagt hätte, hätte ich denjenigen wahrscheinlich nur ausgelacht. Ich meine, ich weiß selbst dass das mal bitter nötig war, aber trotzdem..:“ Wir standen gerade an einer Ampel und Kirja sah mich an und nahm meine Hand in ihre. „Manja, jetzt mach dich nicht verrückt. Du bist aufgeregt, das ist alles. Aber das brauchst du nicht. Ville ist doch da und ich stehe dir auch bei. Und den Rest kenne ich auch noch nicht, also stell dich nicht so an.“ „Ja du hast ja Recht.“ Ein paar Minuten später hielten wir vor dem Incognito an. Und schon als ich aus dem Auto stieg hatte ich das Gefühl das ich jeden Moment tot umfallen würde vor Aufregung. Meine Knie zitterten und meine Hände waren Feucht. Doch bevor ich hätte weglaufen können stand Kirja schon neben mir und nahm mich wie ein kleines Kind an die Hand und zog mich zum Eingang.
|